16. August 2012: „Das Massaker von Marikana hat meine ganze Familie zerstört.“

Die Geschichte der Familie Jokanisi

Ndikho Jokanisi war gerade einmal neun Jahre alt, als sein Vater im Vorfeld des Massakers von Marikana[1] von der Polizei durch einen Schuss in den Rücken getötet wurde, noch bevor das eigentliche Massaker am 16. August 2012 auf dem Hügel vor Marikana begangen wurde. Fast genauso alt ist sein Cousin Ambusise, der diesen  Juni mit ansehen musste, wie sein Onkel Aphelele und dessen Freund von der Polizei erschossen wurden. Bisher ist unklar, warum die Polizei das Feuer eröffnete und die beiden jungen Männer, die zwischen Flagstaff und Lusikisiki im Eastern Cape unterwegs waren, sterben mussten. Ambusise blieb unverletzt, doch was macht eine solche Erfahrung mit einem Kind? Wie viel Leid kann eine Familie ertragen?

Alles fing damit an, dass Ndikhos Vater, Semi Jokanisi, am 13. August auf der Flucht in den Rücken geschossen worden ist und nicht, wie von der Polizei behauptet, bei einem Handgemenge, bei dem zwei Polizisten und zwei weitere streikende Minenarbeiter ums Leben kamen. Bis heute ist der Fall vor Gericht anhängig, es gibt bisher keinen Urteilsspruch, keine Verhaftung, keine Anklage gegen den Schützen, keine Gerechtigkeit für Semi und seine Familie.

Ndikhos Großvater Goodman Jokanisi kam aus Eastern Cape nach Rustenburg und arbeitete dort in den Platinminen. Durch ihn erhielt Semi ebenfalls einen Job. Nach wie vor ist es für Männer aus ländlichen und armen Regionen wie dem Eastern Cape fast die einzige Möglichkeit, ihre Familien zu ernähren, die Kinder auf die Schule zu schicken, ein Haus für die Familie zu bauen. Der Preis dafür ist hoch: nur selten kommen sie nach Hause, die Arbeit ist schwer, gefährlich und gesundheitsgefährdend. Aufgrund dieser unwürdigen und riskanten Voraussetzungen haben die Minenarbeiter für höhere Löhne und bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen gestreikt. „Was wir tun, tun wir nicht nur für uns selbst. Was wir tun, tun wir für unsere Kinder und die Kinder unserer Kinder, und wir verstehen dies als einen Kampf, für den wir bereit sind, unser Leben zu opfern.“[2]

Goodman und Semi teilten sich eine einfache Unterkunft in Marikana. Sie sahen sich nur zwischen den Schichten, wenn der eine aus dem Schacht hoch und der andere hineinfuhr. Nach Semis Tod übernahm sein Bruder Anele dessen Stelle, obwohl er sich nie vorstellen konnte, dass er sein Leben auf dem Land gegen das eines Minenarbeiters untertage eintauschen würde.

Goodmanns Frau und Ndikhos Großmutter, Nomandiya Joyce, litt sehr unter dem Verlust ihres Sohnes. Sie starb vor drei Jahren, ohne zu erfahren, wer ihren Sohn umgebracht hat und warum er sterben musste.

„Zwölf Jahre nach dem Massaker ist weiterhin niemand zur Rechenschaft gezogen worden, niemand ist verurteilt worden,“ schreibt Ndikho in seiner Rede anlässlich der diesjährigen Hauptversammlung von BASF in Mannheim[3]. Der Chemiekonzern war 2012 der größte Abnehmer des Platins, das in Marikana gefördert wurde und ist damit auch mitverantwortlich für die Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort.

Als Lonmin - die Minengesellschaft, die inzwischen an Sibanye Stillwater verkauft worden ist -  nach den Verhandlungen vor der Farlam Kommission sich darauf einließ, wenigstens für die Schulbildung aller Kinder der toten Mitarbeiter aufzukommen, wurde dies zu einem zweischneidigen Schwert. Lonmin entschied – und nicht etwa die Erziehungsberechtigten – in welchen Schulen sie untergebracht werden. Vielleicht war es gut gemeint, letztlich aber waren viele Kinder völlig überfordert damit, nicht nur ihre Väter verloren zu haben, sondern auch noch die Schule wechseln zu müssen, auch wenn die neue Schule vielleicht besser ausgestattet war als ihre alte. Sie verloren ihre Freunde, hatten Probleme, sich an die regionale Sprache und das Bildungsniveau anzupassen und sich sozial zu integrieren. Sie wurden gehänselt, im schlimmsten Fall gemobbt. Das führte oft dazu, dass sie die Schule abbrachen. Ndikho war eine Ausnahme, er studiert heute Jura. Doch sein älterer Bruder Ayabonga konnte damit nicht so gut umgehen. Er war im Internat in Kokstad in KwaZulu-Natal und hat sich dort 2016 das Leben genommen. Seine Großmutter hatte noch versucht, Lonmin zu bewegen, dass er die Schule wechseln dürfe, doch das hat das Unternehmen offenbar abgelehnt.

„Das Massaker hat meine Familie zerstört, zerrissen, zerfetzt. Es hat eine Wunde quer durch die Generationen gerissen, eine Wunde, die wir Kinder weitertragen müssen.“ Ayabonga war 15 Jahre alt und nicht das einzige Kind einer Witwe von Marikana, das sich das Leben genommen hat. Im Jahr 2018 berichteten die südafrikanischen Medien über ein weiteres Mädchen. Und jetzt wird Aphelele Jokanisi ebenfalls unter bisher ungeklärten Umständen von einem Polizisten erschossen: Ein weiteres Trauma, mit dem sich die Familie Jokanisi auseinandersetzen muss.

Ndikho wehrt sich, die Wut über die bestehende Ungerechtigkeit treibt ihn an. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er bei der BASF Hauptversammlung vor rund 6000 Aktionär:innen, dem Aufsichtsrat und dem Vorstand von BASF sagt:

„Ich bin kein naives Kind mehr, ich bin ein Erwachsener. Ich bin nicht hier um Sie um irgendetwas zu bitten, ich will auch kein Mitleid von Ihnen.

Ich studiere Jura. Ich kann Ihnen sagen: von dem, was ich bisher über Recht und Gerechtigkeit gelernt habe – ich sehe nichts davon hier. Ich sehe keine Gerechtigkeit, weder in meiner Vergangenheit, ich sehe hier heute keine, und ich befürchte, dass sie mir auch in Zukunft verwehrt bleibt.

Es ist mir klar geworden, dass wir Ihnen vollkommen egal sind, mit Ihren Hochglanzantworten geht es Ihnen nur um Ihr Image, nicht um unsere Situation.

Wir lassen uns nicht mehr abspeisen von den von Ihnen gefeierten Maßnahmen, diesen Audits, die nichts bringen, diesen Dialoginitiativen, die zu nichts führen, außer dass Sie abermals Zeit gewinnen, nichts Konkretes zu unternehmen.

Wir wollen Konkretes, wir wollen Zeitrahmen: Treffen Sie sich mit uns, der „Marikana Next Generation“, in diesem Jahr, und hören Sie sich unsere Forderungen an. Es gibt viel mehr als ich darlegen kann, in den fünf Minuten, die sie mir gewähren. Werden Sie das tun, werden Sie sich mit uns treffen? Antworten Sie darauf.

Ich hoffe, dass meine Worte für Sie nicht wieder bloß ein Stück Papier sind, über das Sie ungerührt hinweg gehen.“


[1] https://www.kasa.de/publikationen/detail/marikana-fuer-einsteigerinnen-oder-was-hat-mein-auto-mit-dem-massaker-von-marikana-zu-tun/

[2] https://www.independence-echoes.org/podcast/tolsi-on-the-shoulders

[3] https://www.basflonmin.com/de/the-marikana-massacre-destroyed-my-whole-family-speech-by-ndikho-jokanisi-bomela/