Pfarrer Rupert Hambira prangert den Kolonialismus als blinden Fleck in der deutschen Erinnerungskultur an. Er fragt, ob es der Rassismus ist, der darüber entscheidet, wessen Leid in Vergessenheit geraten darf. Seinen Bericht hat uns Pfarrer Hambira dankenswerterweise im Nachgang zur Konferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen zu Rassismus und Kolonialismus im Mai 2025 zur Veröffentlichung überlassen. Das englische Original ist im Anschluss angefügt.
*English Version below*
Wenn Erinnerung selektiv ist: Eine Reflexion von den Rändern Deutschlands
Von Pfarrer Rupert Tjitee Isaac Hambira
Deutschlands weithin gelobte Kultur des Gedenkens – die sich so deutlich in den Denkmälern zum Holocaust zeigt – wird durch ihr Schweigen zu kolonialen Gräueltaten, insbesondere zum Völkermord an den Herero und Nama, moralisch kompromittiert. Diese selektive Erinnerung spiegelt nicht nur eine Hierarchie der Trauer wider, sondern auch eine anhaltende rassistische Voreingenommenheit in der Art und Weise, wie Leiden anerkannt und gedacht wird.
Vom 17. bis 20. Mai 2025 nahm ich an der Konferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) zur Überwindung von Rassismus gegen Schwarze in Berlin teil. An der Abschlussveranstaltung nahm der Moderator des Zentralausschusses des ÖRK teil, ein deutscher lutherischer Bischof und ein Mann von aufrichtigem Glauben und moralischer Klarheit. Er sprach mit Würde über die Stärke der deutschen Gedenkkultur, insbesondere im Zusammenhang mit dem Holocaust. Seine Worte waren aufrichtig und inspirierend. Er zeichnete das Bild einer Nation, die gelernt hat, wie wichtig es ist, sich zu erinnern – sich ihrer dunkelsten Vergangenheit zu stellen und sicherzustellen, dass „nie wieder“ nicht nur ein Slogan ist, sondern ein nationales Ethos. Und damit hatte er Recht.
Berlin ist in der Tat eine Stadt, die von Erinnerung durchdrungen ist. Von den Stolpersteinen vor den Häusern jüdischer Opfer über das riesige Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor bis hin zu den vielen Museen, die sich mit gnadenloser Ehrlichkeit mit den Gräueltaten der Nazizeit auseinandersetzen – das Gedenken ist tief in das Stadtbild eingraviert. Auch die Berliner Mauer hat sich von einem Symbol der Teilung zu einem Ort der Besinnung gewandelt. Selbst ehemalige Missionsgesellschaften wie die Berliner Mission kuratieren heute Gedenkausstellungen, und Institutionen wie das Humboldt Forum zeigen stolz Objekte aus der Vergangenheit. In jeder Hinsicht präsentiert sich Deutschland als eine Nation, die sich intensiv mit ihrer Geschichte auseinandersetzt. Der Stolz des Bischofs auf diese Kultur des Gedenkens ist verständlich. In vielerlei Hinsicht ist sie bewundernswert.
Er sprach bewegend über Dietrich Bonhoeffer, den Theologen und Pastor, der sich dem Nationalsozialismus widersetzte und hingerichtet wurde – nur zwei Wochen vor der Befreiung seines Konzentrationslagers. Bonhoeffer hatte argumentiert, dass Deutschland mit der Vertreibung der Juden Christus selbst vertreibe, da Christus Jude war. Der Bischof fügte hinzu, dass Bonhoeffer, wäre er heute noch am Leben, dieselbe Haltung gegenüber dem Massensterben einnehmen würde, das dem Volk von Gaza angetan wird. All dies ist lobenswert für einen zeitgenössischen deutschen Theologen, der auf der Weltbühne spricht. Und doch bleibt es leider selektiv. Trotz seines Engagements für die Erinnerung hat Deutschland die Verbrechen seiner kolonialen Vergangenheit noch nicht vollständig aufgearbeitet. Dieselben Museen, die die Schrecken des Nationalsozialismus dokumentieren, beherbergen immer noch menschliche Gebeine und geplünderte Artefakte aus afrikanischen Ländern. Die Knochen unserer Vorfahren liegen in Schubladen, ihre Geschichten bleiben unerzählt. Als Nachkomme von Überlebenden der deutschen Völkermordgewalt in Namibia kann ich mich dem unverkennbaren Beigeschmack einer rassistischen Erinnerung nicht entziehen – wo einige Gräueltaten als universelle Tragödien betrauert werden, während andere als historische Fußnoten beiseitegeschoben werden.
Als ich zuhörte – als Nachkomme des Herero-Volkes aus Namibia, dessen Vorfahren durch das Deutsche Reich einem der frühesten Völkermorde des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren –, spürte ich eine Stille, die zu laut war, um sie zu ignorieren. Trotz all seiner Denkmäler und Trauerfeiern bleibt Berlin eine Stadt, die noch keinen Raum für die Erinnerung an ihre Kolonialverbrechen geschaffen hat. Keine Steine markieren die Orte des Leids, das mein Volk erdulden musste. Keine Museen lehren deutsche Schulkinder etwas über den Vernichtungsbefehl von General Lothar von Trotha. Keine Denkmäler ehren die Zehntausenden von Herero und Nama, die in der Wüste und in Konzentrationslagern wie Shark Island ums Leben kamen.
Natürlich zweifle ich nicht einen Moment lang an der Integrität des Bischofs oder der Aufrichtigkeit seiner moralischen Überzeugungen – Gott bewahre! Es ist nur so, dass es in solchen Angelegenheiten sehr schwer sein kann, klar zu sehen, wenn die betreffende Geschichte einem selbst unangenehm nahekommt. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, ob „Rasse“ und Rassismus nicht nur darüber entscheiden, wessen Leiden in Erinnerung bleibt, bewahrt, gelehrt und gedacht wird, sondern auch, wessen Leiden vergessen werden darf.
Es ist jedoch zutiefst ironisch, dass dieser globale Kirchenführer – der selbst Deutscher ist – so eloquent und leidenschaftlich über historische Ungerechtigkeiten anderswo sprechen kann, während er die Not eines Volkes, das seit über 120 Jahren unter deutscher Kolonialgewalt leidet, nicht einmal erwähnt. Und das zu einer Zeit, in der seine eigene Regierung den Nachkommen der Überlebenden aktiv ein mangelhaftes und weitgehend abgelehntes Versöhnungsabkommen aufzwingt – ein Abkommen, das ohne die sinnvolle Beteiligung der betroffenen Gemeinschaften ausgehandelt wurde und diejenigen, die die Erinnerung und den Schmerz dieses Völkermords über Generationen hinweg getragen haben, effektiv an den Rand drängt.
Diese Auslassung ist nicht harmlos. Es handelt sich nicht um eine Frage historischer Verzögerung. Vielmehr ist sie ein bezeichnender Beweis dafür, wie Erinnerung selbst rassistisch geprägt sein kann. Sie offenbart eine beunruhigende Hierarchie der Erinnerung, in der bestimmte Opfer ewig betrauert werden, während andere bequem ausgelöscht werden. Während das jüdisches Leiden als moralische Abrechnung angesehen wird, die für die deutsche Identität unerlässlich ist, bleibt afrikanisches Leiden verhandelbar, leugnungsfähig und aufschiebbar.
Was diese Auslassung noch schmerzhafter macht, ist, dass sie in einer Nation fortbesteht, die sonst stolz darauf ist, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Deutschland hat der Welt gezeigt, dass ein Land wahrheitsgemäß erinnern und aufrichtig Buße tun kann. Umso erschütternder ist jedoch sein Schweigen zu den Gräueltaten der Kolonialzeit. Wenn Erinnerung der Beginn von Gerechtigkeit ist, was sagt dann dieses Schweigen über Deutschlands Gerechtigkeitssinn gegenüber Afrika und seinen Nachkommen aus?
Als Christ glaube ich an die transformative Kraft der Wahrheit. Als Nachkomme von Überlebenden des Völkermords glaube ich, dass Wahrheit nicht nur ein moralisches Ideal ist, sondern eine heilige Verpflichtung – eine, die sowohl die Unterdrückten als auch möglicherweise die Unterdrücker befreit. Die Wahrheit zu sagen ist eine Form der Gerechtigkeit. So können Wunden zu heilen beginnen, Würde wiederhergestellt und die Zukunft gerettet werden.
Aber als Nama und Herero, sowohl in Namibia als auch in der internationalen Diaspora, haben wir mehr denn je zuvor die schmerzhafte Wahrheit in Steve Bikos Worten erkannt: „Schwarzer Mann, du bist auf dich allein gestellt.“ Wir haben niemanden sonst. Nicht die internationale Gemeinschaft. Nicht einmal die Kirche, die sich in den meisten Fällen mitschuldig an unserem Leiden gemacht hat – entweder durch Schweigen, aktive Beteiligung oder indem sie über 100 Jahre lang dazu beigetragen hat, die Wahrheit über den Völkermord an unserem Volk unter dem Sand der namibischen Wüste zu begraben.
Die Verantwortung dafür, dass das Leiden unseres Volkes bekannt wird, niemals vergessen wird und sich niemals wiederholt, liegt bei uns. Das ist keine Nebensache. Es ist unser Flaggschiffprogramm. Es ist die Arbeit der Erinnerung, des Widerstands, der Würde. Und wir führen sie fort – nicht aus Bitterkeit, sondern aus einer leidenschaftlichen Liebe zu unseren Vorfahren, unseren Kindern und der Wahrheit.
When Memory Is Selective: A Reflection from the Margins of Germany's
By Rev. Rupert Tjitee Isaac Hambira
Germany’s widely praised culture of remembrance—so evident in its memorials to the Holocaust—is morally compromised by its silence on colonial atrocities, particularly the genocide of the Herero and Nama peoples. This selective memory reflects not only a hierarchy of grief but also a persistent racial bias in how suffering is recognized and commemorated.
From 17 to 20 May 2025, I participated in the World Council of Churches' consultation on overcoming anti-Black racism, held in Berlin, Germany. The closing session featured the Moderator of the WCC Central Committee, a German Lutheran bishop and a man of sincere faith and moral clarity. He spoke with dignity about the strength of Germany’s memorial culture, especially as it relates to the Holocaust. His words were earnest and inspiring. He painted a picture of a nation that has learned the importance of remembrance—of facing its darkest past and ensuring that "never again" is not just a slogan, but a national ethos. And in this, he was not wrong.
Berlin, indeed, is a city saturated with memory. From the Stolpersteine (stumbling stones) embedded in sidewalks outside the homes of Jewish victims, to the vast Holocaust memorial near the Brandenburg Gate, to the many museums that confront the atrocities of the Nazi era with unflinching honesty—remembrance is etched into the city’s very fabric. The Berlin Wall, too, has been transformed from a symbol of division into a site of reflection. Even former mission societies such as the Berlin Mission now curate memorial exhibits, and institutions like the Humboldt Forum proudly display objects from the past. In all directions, Germany presents itself as a nation deeply engaged in confronting its history. The bishop’s pride in this culture of remembrance is understandable. It is, by many measures, admirable.
He spoke movingly of Dietrich Bonhoeffer, the theologian and pastor who resisted Nazism and was executed—hanged just two weeks before the liberation of his concentration camp. Bonhoeffer had argued that in expelling the Jews, Germany was expelling Christ himself, for Christ was Jewish. The bishop added that were Bonhoeffer alive today, he would take the same stance against the carnage inflicted on the people of Gaza. All this is commendable from a contemporary German theologian speaking on the world stage. And yet, it remains sadly selective. For all its commitment to memory, Germany has yet to fully reckon with the crimes of its colonial past. The same museums that document Nazi horrors still house human remains and looted artifacts from African nations. The bones of our ancestors lie in drawers, their stories untold. As a descendant of survivors of German genocidal violence in Namibia, I cannot avoid the unmistakable smack of a racialized memory—where some atrocities are grieved as universal tragedies, and others are sidelined as historical footnotes.
As I listened—a descendant of the Herero people of Namibia, whose ancestors were subjected to one of the earliest genocides of the 20th century at the hands of Imperial Germany—I felt a silence too loud to ignore. For all its memorials and mourning, Berlin remains a city that has not yet carved space for the memory of its colonial crimes. No stones mark the sites of suffering endured by my people. No museums teach German schoolchildren about the extermination order issued by General Lothar von Trotha. No memorials honor the tens of thousands of Herero and Nama who perished in the desert and in concentration camps like Shark Island.
Of course, I don’t for a moment doubt the bishop’s integrity or the sincerity of his moral convictions—perish the thought. It’s just that, in matters such as these, it can be awfully hard to see clearly when the history in question leads uncomfortably close to home. One cannot avoid wondering whether race and racism shape not only whose suffering is remembered, preserved, taught, and commemorated—but also whose is allowed to be forgotten.
It is, however, deeply ironic that this global ecclesial leader—who is himself German—can speak so eloquently and passionately about historical injustice elsewhere, while failing to even mention the plight of a people whose suffering has endured for over 120 years under German colonial violence. And this at a time when his own government is actively imposing a flawed and widely rejected reconciliation agreement on the descendants of the survivors—an agreement negotiated without the meaningful participation of the affected communities and one that effectively sidelines those who have carried the memory and pain of this genocide across generations.
This absence is not benign. It is not a matter of historical delay. It is, in fact, a telling indictment of how remembrance itself can be racialized. It reveals a troubling hierarchy of memory, where certain victims are eternally mourned and others are conveniently erased. Where Jewish suffering is seen as a moral reckoning essential to German identity, African suffering remains negotiable, deniable, deferrable.
What makes this omission even more painful is that it persists in a nation that otherwise takes pride in confronting its past. Germany has shown the world that a country can remember truthfully and repent meaningfully. But this makes its silence on colonial atrocities all the more jarring. If remembrance is the beginning of justice, then what does this silence say about Germany’s sense of justice toward Africa and its descendants?
As a Christian, I believe in the transformative power of truth. As a descendant of genocide survivors, I believe that truth is not merely a moral ideal but a sacred obligation—one that liberates both the oppressed and, potentially, the oppressor. Truth-telling is a form of justice. It is how wounds begin to heal, how dignity is restored, and how the future can be redeemed.
But as Nama and Herero people, both in Namibia and across the international diaspora, we have come to realize—more clearly than ever before—the painful truth in Steve Biko’s words: "Black man, you are on your own." We have no one else. Not the international community. Not even the church, which has, more often than not, been complicit in our suffering—either through silence, active participation, or in its over 100 years of helping to bury the truth of the genocide against our people beneath the sands of the Namibian desert.
The responsibility of ensuring that the suffering of our people is known, never forgotten, and never repeated is ours. It is not a side campaign. It is our flagship programme. It is the work of memory, of resistance, of dignity. And we carry it forward—not out of bitterness, but out of a fierce love for our ancestors, our children, and the truth.